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Sinti (im französischen Sprachraum auch Manouches) sind eine Teilgruppe der europäischen Roma. Sie leben in Mittel- und Westeuropa und im nördlichen Italien. Sie gelten als die am längsten in Mitteleuropa lebende und als die größte in Deutschland lebende Roma-Gruppe.

Bezeichnungen[]

Sinti (auch: Sinte; Sg. m. sinto, Pl. sinti; Sg. f. sintiza, Pl. sintize; ein von dem Romanes-Nomen abgeleitetes deutsches Adjektiv gibt es nicht) ist die Selbstbezeichnung einer Teilgruppe der Roma, wenn man "Roma" als Oberbegriff versteht. Da der Begriff Roma aber auch die spezifische Subgruppe in Abgrenzung zu Sinti und Kalé bezeichnet, verstehen sich Sinti auch als eine davon verschiedene Ethnie. So erläutert Rajko Djuric, ein Rom, zum Namen "Roma": Dieser Name hat eine zweifache Bedeutung. (...) Als Oberbegriff bezeichnet er zum einen die Roma als Volk insgesamt, zum anderen die Roma als spezifische Gruppe im Unterschied zu der Gruppe der Sinti und zur Gruppe der Kale.[1] Im französischen Sprachgebiet nennen sich Sinti auch Manouches, im niederländischen Manoesje. Manouches (Manusch) bedeutet "Mensch". Eine - kleinere - Teilgruppe, die ursprünglich aus Böhmen und Mähren stammt, nennt sich "Lallara Sinti"; sie wird auch als Lalleri bezeichnet.[2].

Das Ethnonym Sinti ist seit dem späten 18. Jahrhundert belegt. Es tritt 1787 als „Sende“ in der Sulzer Zigeunerliste auf, dann 1793 als „Sinte“ ein zweites Mal in einer Darstellung preußischer „Zigeuner“ (nachrangig zu "Roma" und gleichrangig mit "Kale", alle drei mit gleichem Inhalt). Es ist dort bezogen auf eine Sprecherangabe zwei, drei Jahrzehnte vor diesem Zeitpunkt.[3] Die Endung "-iza" bei sintiza ist ein slawisches Suffix, das bei femininen Formen auftritt, verbindet die Eigenbezeichnung also mit dem slawischen Sprachraum in Europa.[4]

Häufig wird das Wort von dem indischen Fluss Indus abgeleitet. Sindhu sei die Sanskrit-Bezeichnung des Flusses Indus und „Sinti“ meine „Menschen vom Sindhu“.[5] Dabei handelt es sich um eine unbelegbare und gänzlich unwahrscheinliche Annahme im Kontext des indischen Herkunftsmythos der Roma. Linguisten unterstützen die Annahme einer Herkunft der Roma aus dem indischen Subkontinent, weder sie noch Historiker aber verorten dort Genese und Benennung der Subgruppe.[6] Die Ableitung vom Namen der vormals indischen, heute zu Pakistan gehörenden Landschaft Sindh ist ebenso mythisch, nicht aber realgeschichtlich zu verstehen.[7]

Die alternative Selbstbezeichnung Manusch (wie sie sich in Manouches noch findet) scheint wesentlich älter zu sein. Sie ist für 1597 erstmals belegt.[8]

Viele Sinti legen Wert darauf, in ihrer eigenständigen Kultur und mit ihrer besonderen Varietät des Romanes anerkannt und von anderen Roma-Gruppen unterschieden zu werden. Dieses Abgrenzungsbedürfnis besteht allerdings wechselseitig. Es ist heute besonders ausgeprägt zwischen deutschen Sinti einerseits und den seit den 1960er Jahren als Arbeitsmigranten und später als Kriegs- und Vertreibungsflüchtlinge nach Deutschland gekommenen südosteuropäischen Roma andererseits. Wenn der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma als Spitzenorganisation der Minderheit in Deutschland entgegen dem von der International Roma Union empfohlenen und international weithin etablierten Oberbegriff „Roma“ einen Doppelbegriff verwendet, den er um das Attribut „deutsch“ erweitert,[9] steht dahinter eine Einschränkung auf seit Generationen in Deutschland ansässige Inhaber der deutschen Staatsbürgerschaft. „Deutsche Roma“ soll sich dabei ausschließlich auf die deutschen Nachfahren der in der Mitte des 19. Jahrhunderts nach ihrer Befreiung aus der Leibeigenschaft im Habsburgerreich nach Mitteleuropa migrierten Roma beziehen,[10] wiewohl auch viele Migranten der jüngeren Generationen inzwischen deutsche Staatsbürger sind. Fragwürdig ist zudem, nach mehr als 150 Jahren gemeinsamer Existenz "deutscher Sinti und Roma" in Mitteleuropa von nach wie vor jeweils gegeneinander abgeschlossenen Gruppen auszugehen.

Die Sinti Allianz Deutschland, die einige Sinti- und Lovara-Familien vertritt, ist demgegenüber der Meinung, es müsse "jedem freigestellt sein", "sich so nennen zu lassen, wie er/sie es möchte". Sie wolle "niemandem vorgreifen", lehnt aber zugleich Sinti und Roma als Gesamtbezeichnung ab. Sinti seien keine Roma und Roma keine Sinti.[11] Sie forderte lange eine Rückführung der Selbstbezeichnungen Roma bzw. Sinti und Roma auf die umgebungssprachliche Gesamtbezeichnung Zigeuner, und zwar für alle romanessprachigen Gruppen sowie zusätzlich für solche Bevölkerungsgruppen, die angeblich "nach Zigeunerart" leben würden.[12] Mit der Neubegründung der Sinti Allianz 2013 wurde diese Auffassung revidiert.

Geschichte[]

Mittelalter und Frühe Neuzeit[]

Es wird allgemein angenommen, dass die Vorfahren der heutigen Roma in unterschiedlichen Gruppen und zu unterschiedlichen Zeiten ihre ursprünglich indischen Siedlungsräume verließen, zwischen dem 5. und 10. Jahrhundert über Persien und Armenien weiter westwärts migrierten und über Südosteuropa nach Mittel- und Westeuropa gelangten. Seit dem späten 14. Jahrhundert ist ihre Anwesenheit in Ungarn und seit dem frühen 15. Jahrhundert in Mitteleuropa belegt (1407, Hildesheim). Die Sprache der Sinti zeigt an, dass es sich bei ihnen um die älteste in deutsches Sprachgebiet zugewanderte Teilethnie der Roma handelt.

Sebastian Münster, Cosmographia universalis, Basel 1544 oder 1550: Familie von „Zigeunern“/„Heyden“

Nachdem im 15. Jahrhundert Kaiser, Landesherren und Städte den Zuwanderern zunächst Schutzbriefe ausstellten, damit sie sich ähnlich der jüdischen Minderheit ungehindert bewegen konnten, stellten die Reichstage in Lindau (1496–1497) und Freiburg (1498) sie als angebliche Verräter der Christenheit und Bundesgenossen der moslemischen Türken, als Zauberer und Überträger der Pest außerhalb der Rechtsordnung, verfügten ihren sozialen Ausschluss und erklärten sie für vogelfrei: „Wann … yemandts mit der Tat gegen inen Hanndel furnemen wurde, der sol daran nit gefrevelt noch Unrecht gethan haben“ (1498).[13]

Jacques Callot, Bohémiens, Detail: Soldaten zu Fuß und zu Pferd, ca. 1621

Damit war eine grundsätzliche Umkehr des Reichsverbands, der Reichskreise und der Staaten in der Haltung gegenüber der Minderheit eingeleitet, die allerdings nicht einheitlich vertreten wurde. So wurden auch weiterhin Duldungspapiere ausgegeben. Der Reichstag in Augsburg (1551) kritisierte dies und sprach erneut ein allgemeines Verbot der Duldung und die Vernichtung aller existierenden Pässe aus. Dennoch standen „Heiden“ vor allem als Soldaten mit gesuchter Kompetenz und mitunter auch in der Rolle von Offizieren in den zeitgenössischen Söldnerheeren sowohl unter kaiserlichem als auch unter landesherrlichem Schutz. In den Armeen des 17. und noch des 18. Jahrhunderts bis zur Einführung stehender Untertanenheere waren sie ein selbstverständliches Element. Einige von ihnen sind als hohe Polizeioffiziere („Landesvisitator“, „Landleutnant“ u. a.) bekannt (18. Jh.). Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts nahmen andererseits die bis dahin nur gelegentlich verkündeten Abwehrvorschriften in der Zahl zu und eskalierten in der Schärfe. Mit regelmäßigen Streifungen, mit flächendeckenden ständig erneuerten zahlreichen Aufenthalts-, Betretungs- und Unterstützungsverboten und mit drakonischen Strafandrohungen begann in Mittel- und Westeuropa eine allgemeine Verfolgung der Minderheit, die in den 1720er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Sie zielte auf „Ausrottung“.

Hinrichtung einer „Zigeunerbande“ in Gießen, 1726, als öffentliches Schauspiel

Es bildete sich ein gestuftes Strafsystem heraus, nach dem häufig auf eine erste Ausweisung und den Staupenschlag bei der zweiten Grenzübertretung die Brandmarkung und beim dritten Mal die Hinrichtung erfolgen sollte. Mit „summarischen“ Prozessen verzichteten die Behörden im Falle von „Zigeunern“ häufig auf die vorgeschriebenen geregelten Verfahren. Kinder waren gezwungen, der Hinrichtung ihrer Eltern – u. U. „am nächsten Baum“ – zuzuschauen, bevor sie über die Grenze getrieben oder Familien der Mehrheitsbevölkerung übergeben wurden. Zwar war alles „herrenlose Gesindel“ rechtlich ausgeschlossen, die Sanktionen gegen „Zigeuner“ und ihnen gleichgestellte „Vagabunden“ aber waren die repressivsten.[14] Gleichzeitig gab es in einigen Territorien Sinti in der Rolle hoher Polizeiverantwortlicher.[15]

Der Sinto Anton (Antoine) La Grave, Landleutnant in Kurmainz, ca. 1730[16]

Während in Frankreich bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Staat angesichts der Erfolglosigkeit seiner bisherigen Sicherheits- und Ordnungspolitik zur Domizilierung der Bohémiens ou Egyptiens überging, galt das in den Staaten des Alten Reichs verbreitete Konzept der „Vertilgung“ bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es ist jedoch festzustellen, dass es eine erhebliche Differenz zwischen Normsetzung und Normumsetzung gab. Selbst in den Jahren rücksichtslosester Vorschriften gab es immer zugleich auch die Vergabe von Pässen und Wohlverhaltensattestaten und die grundsätzliche Möglichkeit, als „pardonierter Zigeuner“ in die Mehrheitsgesellschaft zu wechseln. Nachdem „Heiden“ in der staatlich-behördlichen Perspektive in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine angesichts der geringen Größe der Minderheit außerordentliche Rolle spielten, ließ das sicherheits- und ordnungspolitische Interesse in der zweiten Jahrhunderthälfte stark nach, um im letzten Jahrhundertdrittel weitgehend zu verschwinden.[17]

Jüngere Geschichte[]

Mit dem Untergang des Alten Reichs und der Entstehung bürgerlicher Rechtsverhältnisse in den deutschen Staaten erhielten die dort geborenen und lebenden Sinti die jeweilige Staatsbürgerschaft und waren rechtlich allen anderen Staatsbürgern gleichgestellt. Mit der Auflösung der traditionellen Berufsvereinigungen, der Verallgemeinerung der Lohnarbeit und der Einführung der Gewerbefreiheit eröffneten sich einerseits neue Zugangsmöglichkeiten in überkommene wie in neue Tätigkeitsfelder. Andererseits zerstörten die industrielle Warenproduktion und die mit ihr einhergehenden Verteilungsformen Erwerbsmöglichkeiten. Mit der Reform des Niederlassungsrechts um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es zum einen zumindest formalrechtlich möglich, die Dauermigration zu beenden. Zum anderen erleichterte die Freizügigkeit die Migration. Zugleich erhöhte sie allgemein die Mobilität und verschärfte die Konkurrenz der Erwerbsmigranten. Viele Familien wechselten – vermehrt im späteren Verlauf des Jahrhunderts und nicht zuletzt angesichts einer zunehmenden Repression – mehr oder weniger unauffällig in eine ortsfeste oder teilweise ortsfeste Lebensweise. In Preußen waren Roma und Sinti um die Mitte der 1880er Jahre „überwiegend sesshaft“.[18]

Der Reichsgründung 1871 folgte eine Wiederentdeckung der jetzt so genannten „Zigeunerplage“[19] und ein „Umschwung“ (Fricke) zu erneuter und eskalierender Verfolgung.[20] Es kam zu einem kräftigen Wiederaufleben antiziganistischer Inhalte in Medien und Politik. Unterschieden wurde nun zwischen „inländischen“ und „ausländischen Zigeunern“. Während es sich bei ersteren vor allem um die lange in Deutschland beheimateten Sinti handelte, waren die zweiten in hohem Maße jene Roma, die nach der Jahrhundertmitte im Gefolge der Zigeunerbefreiung im Habsburger Reich Südosteuropa verlassen hatten und nach Mitteleuropa migriert waren. 1899 wurde in München als polizeiliche Datensammelstelle eine Reichszentrale zur „Zigeunerbekämpfung“ eingerichtet. Sie verfügte 1926 über die biografischen Daten, Fotos und Fingerabdrücke von 14.000 Personen. Nach der Jahrhundertwende beendete offenes Sonderrecht die Phase der rechtlichen Gleichstellung. In Preußen erging am 17. Februar 1906 die restriktive und repressive „Anweisung zur Bekämpfung des Zigeunerwesens“, die von anderen deutschen Ländern übernommen wurde. Während „Zigeuner“ ohne deutsche Staatsbürgerschaft auszuweisen waren, sollten die deutschen sesshaft gemacht werden. Dem dienten Maßnahmen wie die Überweisung der Kinder in Fürsorgeerziehung, die Verweigerung von Wandergewerbescheinen oder Einschränkungen beim Lagern. Die „Anweisungen“, 1924 erneuert, blieben jahrzehntelang maßgebliche Richtlinie.

"Zigeunermission" der Berliner Stadtmission mit dem Bibelspruch "Die Heiden werden in seinem Lichte wandeln" Jesaja 60:3, Foto um 1913

Am 16. Juli 1926 wurde im Freistaat Bayern das „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ verabschiedet.[21] Ausführungsbestimmungen und zeitgenössische Fachkommentare belegen seine kriminalpräventive Funktion, d. h. die genannten Fallgruppen galten als per se kriminell. Die Unterscheidung zwischen „Zigeunern“ und „Landfahrern“ beruhte auf einem rassistischen und völkischen Grundverständnis, ein in der Normierung neues Element: „Die Rassenkunde gibt darüber Aufschluss, wer als Zigeuner anzusehen ist.“[22] Ein Runderlass des preußischen Innenministeriums vom 3. November 1927 ordnete die Abnahme von Fingerabdrücken bei „allen nichtseßhaften Zigeunern und nach Zigeunerart umherziehenden Personen“ an. Wer über 18 war, musste sich für eine „Bescheinigung“ fotografieren lassen, die die Funktion eines Sonderausweises bekam. Weitere Fotos gingen mit den Fingerabdrücken an die besagte „Zigeunerpolizeistelle München“.[23] Das bayerische Gesetz von 1926 wurde zur Vorlage für das von dem sozialdemokratischen Innenminister Wilhelm Leuschner des Volksstaats Hessen vorgelegte und am 3. April 1929 verabschiedete „Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“.[24] In diesem Fall wie generell wurden die Exklusionsmaßnahmen gegen „Zigeuner“ und „Landfahrer“ – von „Arbeitsscheuen“ war in Hessen nicht die Rede – von allen Parteien mit Ausnahme der KPD befürwortet, die das Gesetz als verfassungswidrig ablehnte.

In vielen Orten gab es Initiativen von Bürgern oder von Behörden, die sich bei ihren Maßnahmen auf Bürgerappelle beriefen, „Zigeuner“ entweder zu verdrängen oder sie unter polizeiliche Bewachung zu stellen. In Köln, wo während der Weltwirtschaftskrise zahlreiche „wilde Siedlungen“ häufig in Gestalt von Wohnwagenstellplätzen entstanden waren, schlug 1929 die Polizei einen Zigeunersammelplatz vor. Damit sei der „allgemeinen Unsicherheit und Verunstaltung des Straßenbilds“ zu begegnen.[25] Im preußischen Frankfurt richtete die Stadt auf sozialdemokratische Initiative hin ein „Konzentrationslager“ für „Zigeuner“ ein.[26] Der Begriff war bis dahin im deutschen politischen Sprachgebrauch Lagern für abzuschiebende „Ostjuden“ vorbehalten gewesen.

Die rassistische Neudefinition der Minderheit überschnitt sich mit der überkommenen soziografischen Definition: einerseits wurde „rassisch“ zwischen angeblich nichtdeutschen „Zigeunern“ und deutschen Landfahrern unterschieden, andererseits wurden nur Fallgruppen mit dem kulturellen Merkmal einer „fahrenden“ Lebensweise, das die ortsfest Lebenden nicht weiter aufwiesen, dem Ausschluss unterworfen. Eine Unterscheidung zugunsten oder zulasten dieser oder jener Subgruppe der Romaethnie trafen weder die Behörden noch das dominanzgesellschaftliche Vorurteil. Sie unterschieden grundsätzlich nicht. „Zigeuner“, soweit sie augenscheinlich „nomadisierend“ dem antiziganistischen Stereotyp entsprachen, waren unbeachtlich ihrer Selbstwahrnehmung alle unterschiedslos unerwünscht.

Nationalsozialismus[]

Deportation von südwestdeutschen Sinti in Asperg, 22. Mai 1940 (Foto der RHF)

Gedenktafel für ermordete Sinti des Lagers Höherweg in Düsseldorf-Lierenfeld

Ravensburg, Mahnmal zum Gedenken an die 29 in Auschwitz ermordeten Sinti aus Ravensburg

Die staatlichen antiziganistischen Normen und Praktiken der vornationalsozialistischen Zeit wurden im Nationalsozialismus zunächst fortgeführt. Dann wurden sie schrittweise verschärft und ausgeweitet. Dabei spielten Initiativen von der unteren Ebene der staatlichen Hierarchie eine wesentliche Rolle. Die Maßnahmen richteten sich wie zuvor generell gegen deutsche und nichtdeutsche Roma und Sinti. Alle „Zigeuner“ wurden sowohl aus rassehygienischen als auch aus ethnisch-rassistischen Motiven verfolgt. Das Etikett stufte die davon Betroffenen als zugleich kollektiv „asozial“ und „fremdrassig“ ein. Die Einstufung zog eine rassische bzw. völkische Scheidelinie zwischen „Zigeunern“, nämlich „Vollzigeunern“ und „Zigeunermischlingen“, auf der einen und einer Vielzahl von vor allem subproletarischen Sozialgruppen „deutschblütiger Asozialer“ auf der anderen Seite.

Die Mitarbeiter der Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt entwickelten ein detailliertes System der genetisch-genealogischen Qualifizierung als „Zigeuner“ bzw. als „Nicht-Zigeuner“. Jeden einzelnen der von ihnen erfassten kategorisierten sie nach seinen angeblichen „Blutsanteilen“. So schufen sie die Voraussetzungen für eine Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus – so der Runderlass Himmlers vom 8. Dezember 1938 – als der entscheidenden Weichenstellung in Richtung des Genozids (siehe Porajmos). Am 16. Dezember 1942 und nach dem weitgehenden Abschluss der Arbeiten an einem „Zigeunersippenarchiv“ ordnete Himmler dann mit dem Auschwitz-Erlass an, „Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft“ in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zu deportieren.[27]

Während „Nicht-Zigeuner“, d. h. „deutschblütige Asoziale“, nicht zu den Fallgruppen gehörten, die der Auschwitz-Erlass als zu deportieren nannte, sollten nach den Ausführungsbestimmungen vom 29. Januar 1943 „reinrassige“ Sinti und Lalleri oder „im zigeunerischen Sinne gute Mischlinge“ dieser beiden Gruppen von der Umsetzung des Erlasses laut dessen Ausnahmebestimmungen ausgenommen sein. Die Zahl der Verschonten war „verschwindend gering“. Sie betrug „weniger als ein Prozent“ der rund 30.000 bei Kriegsbeginn im Deutschen Reich lebenden „Zigeuner“.[28]

Die im Elsass lebenden Sinti wurden nach der Besetzung des Elsass nach Innerfrankreich ausgewiesen, soweit sie dorthin nicht bereits geflüchtet waren. Diejenigen, die sich nach der Kapitulation Frankreichs in der Vichy-Zone aufhielten, wurden in einem Lager im Département Pyrénées Orientales interniert. Soweit sie im besetzten Frankreich einer Internierung in einem der von den französischen Behörden einzurichtenden Lager unterlagen, verschlechterten sich zwar ihre Lebensbedingungen. Da Erfassung und Internierung jedoch in französischen Händen lag, nomades und ähnliche Gruppen nicht nach rassepolitischen Kriterien unterschieden und kategorisiert wurden und keine eliminatorischen Zielsetzungen bestanden, überlebten sie die NS-Besatzung zum größten Teil.[29] Über 25.000 Roma aus elf Ländern Europas, ganz überwiegend aber aus Deutschland und Österreich und mehrheitlich Sinti, wurden nach Auschwitz deportiert, mindestens 17.000 von ihnen dort ermordet. „Insgesamt wurden an die 15.000 Menschen aus Deutschland zwischen 1938 und 1945 als ‚Zigeuner‘ oder ‚Zigeunermischlinge‘ umgebracht“, davon etwa 10.500 in Auschwitz-Birkenau.[30]

Gegenwart[]

In Deutschland leben bis zu 60.000 Sinti deutscher Staatsbürgerschaft[31] als Nachfahren der historischen Zuwanderung vor 600 Jahren. Bereits 1982 stellte die Bundesregierung fest, dass sie „entgegen der landläufigen Meinung (…) fast alle seßhaft“ seien.[32]

Seit Ende der 1990er Jahre sind mit der Ratifizierung des Rahmenabkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten durch die Bundesrepublik Deutschland 1997 und der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen 1998 neben Dänen, Friesen und Sorben Sinti und andere Roma deutscher Staatsangehörigkeit und autochthoner Herkunft als "nationale Minderheit" anerkannt. Das schließt Angehörige anderer Roma-Gruppen, ohne oder mit jüngerer deutscher Staatsangehörigkeit aus, auch wenn es sich dabei um Sinti handelt.

Als Spitzenvertretung der Minderheit findet der 1982 in der Nachfolge des Verbands Deutscher Sinti gegründete Zentralrat Deutscher Sinti und Roma mit Sitz in Heidelberg allgemeine Anerkennung. Sein langjähriger Vorsitzender Romani Rose war einer der führenden Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung der 1970er und 1980er Jahre und ist seit 1982 Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Im Zentralrat sind neun Landesverbände und weitere regionale Mitgliedsverbände zusammengeschlossen.

Kleinere Gruppen der Minderheit schlossen sich in der früher im Rheinland (Sitz in Köln), jetzt in Niedersachsen (Sitz in Hildesheim) beheimateten Sinti Allianz Deutschland und in der Rom und Cinti Union (Hamburg) zusammen, die jeweils vor allem regionale Bedeutung haben und sie mit den Regionalorganisationen des Zentralrats teilen müssen. So steht neben der Hamburger Rom und Cinti Union der Landesverein der Sinti in Hamburg ([13]). Er vertritt eine deutlich weniger abgrenzende Haltung als die Sinti Allianz gegenüber Mehrheitsbevölkerung und -gesellschaft,[33] neben der ebenfalls abseits des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma auch der Niedersächsische Verband Deutscher Sinti e. V. ([14]) Sinti-Interessen vertritt.

Wichtige gemeinsam von Roma und von Menschen aus der Mehrheitsbevölkerung getragene Zusammenschlüsse mit sozialpolitischem und sozialarbeiterischem Schwerpunkt, die sich unter Einschluss von Arbeitsmigranten und Flüchtlingen allen Romagruppen und also auch der Gruppe der Sinti zuwenden, sind regional der Rom e. V. (Köln) und der Förderverein Roma (Frankfurt a. M.).

Die Sprache der Sinti, eine auch als Sintitikes, gelegentlich als Sintikanes/Sintikenes und als sintengeri tschib (= Sprache der Sinti)[34] bezeichnete Varietät des Romanes, ist aufgrund des mehr als 600jährigen Aufenthalts im deutschen Sprachgebiet stark vom Deutschen geprägt.[35]

Aktuelle Untersuchungen zu sozialen Lage der Sinti liegen nicht vor. Solche entstanden in den 1980er Jahren.[36] Sinti standen im Fokus, aber aus dem Blick fielen all jene, die Wert darauf legten, als "Zigeuner" unbekannt zu sein und zu bleiben. Ohne Aufmerksamkeit blieben daneben als Fallgruppen erstens die unerkannt lebenden "Gastarbeiter-Roma" aus Spanien oder Jugoslawien und zweitens später dann die Angehörigen osteuropäischer Romagruppen, wie sie seit dem Systemwechsel und den daraus hervorgehenden sozialen Notlagen und Kriegen u. a. nach Deutschland migrierten. Die Untersuchungen der 1980er Jahre verorteten Sinti in einer ökonomischen, sozialen und bildungsmäßigen Randlage. Eine Studie von 2001 kam im Rückblick zu dem Schluss, dass ausweislich dieser Untersuchungen damals und "bis heute ein im Verhältnis zum Bevölkerungsdurchschnitt größerer Teil der Sinti und der Jenischen in Armut" gelebt habe und weiter lebe. Die "aggressive Vertreibungspolitik" seit den späten 1940er Jahren "sowie die ängstliche Kontroll- und Bewährungspolitik" der 1960er Jahre hätten sie "sozial und ökonomisch ausgegrenzt". Sie hätten weiterhin geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, beim sozialen Status, bei der Schulbildung und bei der Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen.[37] Eine 2011 publizierte Untersuchung zur Bildungssituation "deutscher Sinti und Roma", die real sich allein auf Sinti in der eingeschränkten Definition der deutschen Dachverbände, also auf Gruppenangehörige mit deutscher Staatsbürgerschaft und "authochtoner" Herkunft bezieht, Roma anderer Provenienz aber ausschließt,[38], stellt überdurchschnittliche Anteile bei der Nicht-Beschulung, beim Besuch von Förderschulen und beim Fehlen einer beruflichen Ausbildung fest.[39] Vielfach sei "die Alphabetisierung als ausreichende formelle Bildung" angesehen worden. Es existierten auch "Ängste um die eigenen Kinder, wenn diese sich in der Mehrheit bewegen." Alexander von Plato, Mitautor und wissenschaftlicher Begleiter der Studie, erklärte dazu, "durch die NS-Politik kam es zum Bildungsbruch.“ Es habe ein allgemeines Schulverbot für "Zigeuner" gegeben und nur ein kleiner Teil der Minderheit habe überhaupt überlebt.[40] Gleichzeitig hält die Studie fest, es sei "vor allem in der dritten Generation [nach dem Ende des Nationalsozialismus] eine zunehmende Unterstützung bei den Bildungsbemühungen durch die Familie zu beobachten, verbunden mit einem höheren Schulbildungsgrad der Elterngeneration." Experten sehen einen Rückstand gegenüber in Deutschland lebenden osteuropäischen Roma, der mit den vormaligen Ausbildungschancen und Aufstiegsmöglichkeiten "in den früheren sozialistischen Staaten zu tun" habe.[41]

In der nach wie vor bestehenden Mangelsituation vor allem der Eltern- und Großelterngeneration liegt eine Differenz zu den entsprechenden Altersgruppen osteuropäischer Migranten-Roma, die bis zum Systemwechsel über vergleichsweise gute Bildungschancen verfügten. Inzwischen schließt die Differenz sich, weil viele osteuropäische Roma - wie generell Angehörige der sozialen Unterschichten - seither ebenfalls in ihren ökonomischen, sozialen und Bildungschancen stark beeinträchtigt werden.[42]

Kultur[]

Deutsche Sinti fühlen sich "mit den Regionalkulturen" der Räume, in denen sie seit Generationen beheimatet sind, "stark verbunden".[43] Traditionelle spezifische Besonderheiten sind neben der Sprache Romanes z. T. umfassendere Formen der familiären Organisation noch über die "zusammenhängende Drei-Generationen-Familie" hinaus, wie sie anders als bei Sinti inzwischen in der eingesessenen Umgebungsgesellschaft nur mehr einen Restbestand darstellt. "Familiengeschichte, Gruppenregeln und Abgrenzung gegenüber anderen Familienverbänden" halten diese großfamiliären Teilgruppen mit jeweils "starker regionaler Bindung" zusammen.[44] Reinhold Lagrene, Sinto, spricht von einer besonderen „Achtung gegenüber alten Menschen“, die „bis heute selbstverständlich“ sei.[45]

Nach wie vor gibt es unter traditionalistisch orientierten Sinti, wie sie sich zum Beispiel in der "Sinti-Allianz" finden,[46] interne Formen der Normierung und Konfliktregelung, traditionelle Meidungsregeln und Umgangsgebote. "In geschwächter Form" ist hier "die Institution des Rechtsprechers" einzuordnen.[47] Dazu gehört, dass alles was mit Tod und Blut zu tun habe, "unrein" sei. Daraus ergibt sich ein Verbot, Arzt oder Krankenschwester zu werden. Heiraten mit "Gadsche" (= Nicht-Roma) seien unerwünscht, und Kinder aus solchen Verbindungen - so die vormalige Sprecherin der Sinti-Allianz Natascha Winter - "Bastarde". Frauen hätten sich im Beisein besonders von älteren Männern und in der Öffentlichkeit zurückzuhalten. Alle aber hätten Älteren und "Respektspersonen" eine besondere Ehrerbietung zu erweisen. Dieser Traditionalismus ist innerhalb der Sinti-Community umstritten.[48]. Welche Bedeutung ihm heute noch in der Lebenspraxis der Angehörigen der Minderheit zukommt, ist nicht zu sagen.

Offenkundig hat er Gemeinsamkeiten mit dem in der europäischen Dominanzgesellschaft lange vorherrschenden und bis heute - nicht selten noch sehr ausgeprägt - vorhandenen Patriarchalismus und konfessioneller, nationaler, regionaler oder sozialer Abgrenzung, wie an der Verurteilung von "Mischehen" erkennbar. Wie viel Zustimmung er innerhalb der Minderheit heute noch findet, ist unbekannt. Katrin Reemtsma betont dazu, dass die Voraussetzungen Bewahrung und Fortführung traditioneller kultureller Formen noch ungünstiger seien als in den umgebungsgesellschaftlichen regionalen und sozialspezifischen Kulturen. Nicht allein die allgemeinen sozioökonomischen Veränderungen, sondern vor allem "die Verfolgung während des Nationalsozialismus zerstörten die traditionellen Lebensgrundlagen und sozialen Strukturen der meisten Familien. Die Mehrheit der alten Menschen, Vermittler der Kultur und Wahrer über die Einhaltung der sozialen Normen war umgebracht worden."[49]

Eine Mehrheit der Sinti ist katholisch, eine Minderheit evangelisch, eine weitere Minderheit hat sich Gruppen wie der Pfingstbewegung oder anderen freikirchlichen Zusammenschlüssen zugewandt.[50] Daneben gibt es spezifische Formen des Volksglaubens wie zum Beispiel die Vorstellung vom "schwarzen und den weißen Mulo" (Totengeister, Tote)[51] und eine speziell ausgeprägte Ahnenverehrung, wie es auch in den regionalen Mehrheitskulturen dissidente Formen des Volksglaubens gibt.

Heute nennen Sinti vor allem drei Themenfelder als charakteristisch für Sinti-Kultur: ihre Sprache,[52] im Zusammenhang damit die Kultur der oralen Überlieferung und Erzählkunst[53] und die Musik,[54] die sich über ein weites Spektrum von Varianten verteilt und vor allem hörerorientiert gemacht wird, also keine eigentümlichen "ethnischen" Merkmale aufweist. Was die Sprache betrifft, geht Reinhold Lagrene von einer „ausgeprägte(n) Tradition und Volkskultur im Geschichtenerzählen“ aus. Die mündliche Überlieferung sei zwar keine Besonderheit, aber Sinti hätten sie „möglicherweise stärker als die Mehrheitsbevölkerung bis heute bewahrt“.[55] Zugleich hält Reinhold Lagrene fest, dass "anders als bei den Roma in anderen europäischen Ländern ... die bisherige Haltung der deutschen Sinti einer Verschriftlichung ihrer Sprache gegenüber überwiegend ablehnend" sei. Der Zentralrat als Dachorganisation respektiere das. Gleichwohl müsse das Bewusstsein innerhalb der Minderheit für die Bedeutung der Sprache doch gestärkt werden, wenn sie fortbestehen solle.[56] Ein Beleg dafür, dass nicht alle Sinti in gleicher Weise traditionellen Meidungsgeboten verhaftet sind, ist die von der Romanes-Arbeit-Marburg e. V., zu der auch Sinti gehören, erarbeitete Übersetzung des Neuen Testaments in das deutsche Romanes.[57] Zu den kulturellen Leistungen von Angehöriger der Minderheit gehören Beiträge zur Allgemeinkultur. Eine größere Zahl von Sinti ist mit herausragenden Beiträgen zur Musik hervorgetreten, so zum Beispiel der Manouche Django Reinhardt zum Swing und der elsässische Manouche Biréli Lagrène zum modernen Jazz, zu lateinamerikanischer Musik und zur Klassik. Eine Größe der deutschen Populärmusik ist Marianne Rosenberg. Ihr Vater Otto Rosenberg und ihre Schwester Petra Rosenberg sind aus der Bürgerrechtsbewegung bekannt.

Einige Sinti-Familien verbindet eine lange Zugehörigkeit mit dem reisenden Unterhaltungsgewerbe. Manches Circus-Unternehmen und manche Familie von Hochseilartisten hat Sinti-Herkunft oder ist mit Angehörigen der Minderheit verwandtschaftlich eng verbunden.[58]

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